
Die Welten des 40. Filmfest Osnabrück
Mal leise, mal laut zeichnet das 40. Filmfest Osnabrück vom 7. bis 12. Oktober ein aktuelles und intimes Bild unserer Zeit. Filme, die einen Blick hinter sonst verschlossene Türen zulassen und uns die Einsamkeit der kapitalistischen Arbeitswelt genauso wie das beflügelnde Gefühl von Zugehörigkeit spüren lassen. Das Filmfest setzt dabei auf sechs thematische Schwerpunkte: Wandel, Schule in Kriegszeiten, Spuren der Zeit, Familienbanden, Einsamkeit und Subkulturen.
Wandel
Unsere Welt ist im Umbruch. Das zeigt sich jeden Tag in den Nachrichten, die von globalisierten Konflikten und deren Folgen berichten. Ob direkt vom Wandel betroffen oder durch bevorstehende, abstrakte Veränderung eingeschüchtert – das Filmfest nimmt anhand von Einzelschicksalen wieder den Mensch in den Fokus. Aus Einsamkeit beginnt Filmemacher Arjun Talwar, der seit 10 Jahren in Polen lebt, seine Nachbarn zu filmen. Briefe aus der Wilcza zeigt intime Einblicke in den Alltag der Nachbarschaft. In einem Land, das nach außen oft kalt und abweisend wirkt, zeigt Talwar den Spagat zwischen Rassismus und Momenten wunderbaren, menschlichen Miteinanders. In Zeiten eines gesellschaftlichen Rechtsrucks wird die Suche nach Gemeinschaft und Zugehörigkeit besonders bedeutsam. Während Rassismus und Rechtsruck in Polen Ängste schüren, sieht Saina in der Mongolei seine komplette Lebensweise schwinden. Der Spielfilm To Kill a Mongolian Horse von Xiaoxuan Jiang führt in die mongolische Steppe. Saina performt Nachts traditionelle mongolische Pferdekunststücke, tagsüber bemüht er sich um seinen Hof, pflegt seinen Vater und streitet sich mit seiner Ex-Frau. Die einst stolzen nomadischen Traditionen sind zu Touristenspektakeln degradiert worden. Zwischen Pflichtbewusstsein, Verlustängsten und dem Ringen um die eigene Identität versucht Saina einen Weg nach vorn zu finden, ohne dabei seine Wurzeln vollends zurückzulassen. Der Dokumentarfilm Khartoum begleitet fünf Einwohner*innen Khartums im Sudan bei dem Versuch ihre Träume zu verwirklichen. Auch nach dem Regimewechsel und Kriegsbeginn setzt das Filmteam die Arbeiten fort und dokumentiert die gemeinsame Flucht. Ein poetischer und gleichzeitig direkter Film über das Leben in Krisen über Stärke und Solidarität.

Khartoum (Regie: Anas Saeed, Rawia Alhag, Ibrahim Snoopy, Timeea Mohamed Ahmed, Phil Cox)
Schule in Kriegszeiten
Leere Schulflure, kaputte Fenster, ein dumpfes Dröhnen im Hintergrund. Eine Schulklasse im Sportunterricht. In der Ukraine geht die Schule trotz Krieg für viele weiter – der Versuch, ein Stück Normalität aufrechtzuerhalten. Timestamp von Kateryna Gornostai beobachtet den Alltag von Schüler*innen und Lehrkräften im Ausnahmezustand und zeichnet ein Bild von Fragilität und Widerstandskraft zugleich. Im Dokumentarfilm Mr. Nobody Against Putin (David Borenstein) trotzt Lehrer Pavel Talakin dem Moskauer Regime. Er beginnt die geforderte Propaganda an seiner Schule zu dokumentieren und dem britischen Regisseur David Borenstein zuzuspielen und riskiert damit sein Leben. Kurz nach Schuljahresende gelingt Pavel die Flucht. Seine tiefe Verbundenheit mit Karabasch verleiht diesem Film seine erschütternde Kraft – mutig und aufrüttelnd. Beide Filme laufen im Wettbewerb um den Friedensfilmpreis Osnabrück.

Fiume o morte! (Regie: Igor Bezinović )
Spuren der Zeit
Am 29. Mai 1949 bestieg die schottische Künstlerin Wilhelmina Barns-Graham den Grindelwaldgletscher. Ein Ereignis, das ihre Kunst transformierte. A Sudden Glimpse to Deeper Things (Mark Cousins) versucht den Moment der Inspiration zu verstehen. The New Year That Never Came von Bogdan Mureșanu widmet sich einem historischen Schlüsselereignis: 20. Dezember 1989 in Rumänien. Die Straßen sind voller Demonstrationen. Zwischen einnehmenden Protesten rund um den Machthaber Ceaușescu, kreuzen sich sechs scheinbar nicht zusammenhängende Schicksale auf unerwartete Weise. Während hier der Zeitpunkt in den Blick genommen wird, beschäftigen sich La memoria de las mariposas (Tatiana Fuentes Sadowski) und Fiume o morte! (Igor Bezinović) mit einer ganzen Ära wie dem Kautschukboom im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Peru oder der bewegten Stadtgeschichte von Rijeka (Kroatien). Isabella Brunäcker verbindet in ihrem atmosphärischen Roadmovie Sugarland aktuelle Themen einer Generation wie Post-Covid-Einsamkeit und Sehnsucht mit einer 90er-Jahre Ästhetik. Der Eröffnungsfilm lässt durch feine ästhetische Remineszenzen eine zeitlose Geschichte entstehen.

La memoria de las mariposas (Regie: Tatiana Fuentes Sadowski)
Familienbanden
Ohne Kinder gibt es keinen Zirkus, so einfach erklärt es “Opa Ehe”, einer der letzten großen Zirkusdirektoren Deutschlands, seinem Urenkel Santino. Die Großfamilie ist alles was Santino kennt. Zirkuskind von Julia Lemke und Anna Koch begleitet den aufgeschlossenen Elfjährigen über ein Jahr im Alltag zwischen Großfamilie, Manege und den wilden Geschichten von “Opa Ehe”. Neben viel Arbeit und Verantwortung bringt das Zirkusleben aber auch jede Menge Zusammenhalt. Den spürt auch die zwölfjährige Eya in Têtes brûlées von Maja-Ajmia Yde Zellama, die in einer tunesisch-muslimischen Familie in Brüssel aufwächst. Vom plötzlichen Tod ihres älteren Bruders getroffen, bringt nur die gemeinschaftliche Trauer ein wenig Trost. Gerade von seiner Pflegefamilie rausgeschmissen findet Christy (Brandan Canty) Halt in der Stadtteilcommunity des irischen Cork. Egal wie rotzig der Umgang miteinander – Zugehörigkeit wird nie infrage gestellt. Wie sehr Familie auch einschränken und isolieren kann, zeigt Ernesto Martínez Bucio in El diablo fuma…. Fünf Geschwister in Mexiko-Stadt, gerade von ihren Eltern bei der abergläubischen und paranoiden Großmutter zurückgelassen, versuchen den Anschein einer perfekten Familie aufrecht zu erhalten. Mit beißendem Humor, einer Absurdität und tragikomischen Elementen lässt Sonja Prosenc in „Family Therapy” die Fassade einer wohlhabenden Familie bröckeln und rückt extremen Reichtum und Privilegien in den Vordergrund. Friendly Fire (Klaus Fried und Julia Albrecht) und The Botanist (Jing Yi) hingegen erforschen, was Familie bedeutet.

Têtes brûlées (Regie: Maja-Ajmia Yde Zellama)
Einsamkeit
Ein Lagerraum voller Menschen, geschäftiges Treiben, Kommen und Gehen – dennoch spürt Aurora nur Einsamkeit. Der Schichtdienst des schottischen Lagerhauses lässt, selbst in der Wohngemeinschaft der portugiesischen Migrantin, keinen Raum für menschliches Miteinander. On Falling von Laura Cerreira zeigt einen ungeschminkten Blick auf die verborgenen menschlichen Kosten des Massenkonsums. Auch in Home Sweet Home von Frelle Petersen wird Sofie ganz von ihrer Arbeit eingenommen. Die ambulante Seniorenpflegerin in einer kleinen Stadt in Dänemark wird mit ihrer fürsorglichen Art schnell zur Lieblingspflegerin vieler Patient*innen. Die emotionale Belastung stellt Sofie vor große Herausforderungen. Der Film zeigt einen für die Gesellschaft so essenziellen und doch oft übersehenen Beruf in all seinen Facetten. Mit viel Fingerspitzengefühl widmen sich Carreira und Petersen dem großen Problem Einsamkeit in einer modernen Gesellschaft.

On Falling (Regie: Laura Carreira)
Subkulturen
“The Night Will Turn to Day” ist das Motto des größten Heißluftballons von Tron Everton Soares – einem sogenannten Baloeiro. Der actiongeladene Dokumentarfilm Balomania (Sissel Morell Dargis) erzählt über fünf Jahre von Brasiliens Untergrund-Heißlutballonbauer*innen. Die illegale Ballonkunst, ein Erbe aus der Kolonialzeit, lebt im Verborgenen mit ungebrochener Leidenschaft weiter – ein Einblick in eine geheime Welt. Hinter verschlossene Türen in Tbilisis gelangen auch Gonga und Bart Holy Electricity (Tato Kotetishvili). Durch den Tür-zu-Tür-Verkauf von mit Neonlichtern verzierten Kreuzen, ein Zufallsfund auf Barts Schrottplatz, lernen sie unterschiedlichste Bewohner*innen ihrer Stadt und ihre Sammelleidenschaften kennen. Eine Leidenschaft, die verbindet und gleichzeitig ablenkt – mit dem Parkour-Sport sehen Ahmed und seine Freunde ihre Chance Palästina irgendwann verlassen zu können. Sie trainieren in den Dünen, einem zerbombten Flughanger oder zerstörten Parkhäusern, begleitet vom Explosionsgeräuschen im Hintergrund und der konstanten Erinnerung an den Krieg. Der Dokumentarfilm Yalla Parkour von Areeb Zuaiter erzählt von Träumen und der Kraft einer Passion. Seiner Leidenschaft folgt auch Fedor in The Swan Song of Fedor Ozerov (Yuri Semashko). Beständig verfolgt der skurrile Musiker seinem Traum eine Band zu gründen – wenn er nur seinen Pullover wiederfinden würde und damit auch seine Inspiration. Für ihn zählt nur die Suche nach dem Pullover, nach Inspiration, nach Sinn. Das eine Band mehr als ein Hobby sein kann, zeigt der Dokumentarfilm Queer as Punk eindrucksvoll. Yihwen Chen begleitet den Transmann Faris und seine malaysische Queer-Punkband Band. In einem Land, das die Existenz von LGBTQ+-Personen offiziell nicht anerkennt und ihre Ablehnung religiös begründet, kämpft Faris mit seiner Wahlfamilie um seinen Platz in der Gesellschaft.

Yalla Parkour (Regie: Areeb Zuaiter)
Premieren
Die Deutschlandpremiere Querido trópico von Ana Endera begleitet die kolumbianische Pflegekraft Ana Mária, die sich in Panama um eine an Demenz erkrankte Frau kümmert. In dem einfühlsamen und stimmungsvollen Langfilm-Drama tauchen die beiden Protagonist*innen ein in komplexe Dynamiken von Mutter-Tochter-Beziehungen.
Unter den Kurzfilmen finden sich in diesem Jahr drei Weltpremieren: In Komparse (Benedikt Schmitz) bekommt ein erfolgloser Schauspieler in einer Verkehrskontrolle die Chance sein Talent zu beweisen. Ludmilla (Vini Moreira) ist eine unmotivierte Sportlehrerin, die von ihren Schüler*innen mit der Vergangenheit konfrontiert wird und in 10 Minuten (Henri Graute) scheint die Zeit in einem Wartezimmer anders zu ticken.
Mit Sex at 70 (Vanesa Romero), Kennen wir uns? (Natalie Dutzler), Hanami (Diane Bonnot), Der Dschinn (Enricka M.H) und Ballerina (Soheil Babaei & Farima Khalili) feiern insgesamt fünf Kurzfilme aus dem Kinder- und Erwachsenenprogramm ihre Deutschlandpremiere auf dem Filmfest Osnabrück.

Querido tropicó (Regie: Ana Endera)