Geschichten über Auswege, Aufbrüche und vom Aufwachsen

Die Sektion Kinderrechte beim 38. Filmfest Osnabrück 

 

„Keine Ahnung, wie es in ihrem Inneren aussieht“, sagt Anas Mutter über ihre Tochter in dem portugiesisch-französischen Film „Wolf & Dog“. Eine Frage, die im Grunde Ausgangspunkt aller vier Filme sein könnte, die sich in diesem Jahr um den Filmpreis für Kinderrechte des Filmfest Osnabrück bewerben. 

 

„Wolf & Dog“ (Lobo e cão) ist eine filmische Erzählung, aber mit durchweg überzeugenden Laiendarsteller*innen besetzt. Alle stammen von der Azoreninsel São Miguel, dem Schauplatz der Geschichte. Reizvoll für Tourist*innen, aber die hier geborenen jungen Menschen fühlen sich eingeengt durch die natürlichen Grenzen, den Katholizismus, die strengen Traditionen. Ana ist eine von ihnen, anfangs noch unsicher, suchend, aber im Begriff, ihren Ausweg zu finden, so wie Luís, ihr bester Freund, der seine Queerness offen auslebt. Die Regisseurin Cláudia Varejão legt mit „Wolf & Dog“ nach mehreren Dokumentar- und Kurzfilmen, bei denen sie teils auch als Kamerafrau und Schnittmeisterin fungierte, ihren ersten abendfüllenden Spielfilm vor. Ihre Erfahrungen als Dokumentaristin flossen in die Inszenierung ein und verleihen ihr eine authentische Anmutung. 

 

Den umgekehrten Weg ging Tatiana Huezo. Nach dem Spielfilm „Prayers for the Stolen“ über drei Mädchen, die im ländlichen Mexiko ständiger Gefahr durch die Drogenkartelle ausgesetzt sind, kehrt die erfahrene Dokumentaristin mit „The Echo“ (El eco) zu ihrer früheren Profession zurück, obgleich erklärtermaßen ihre Spielfilm-Erfahrungen in die Dreharbeiten eingeflossen sind. Sie widmet sich dem dörflichen Leben in El Eco im Bundesstaat Puebla. Zentrale Figur ist Montserrat Hernandez, eine junge Frau, die wie ihre Altersgenoss*innen früh erwachsen werden musste. Ihre Familien führen  

ein entbehrungsreiches Leben. Kinder müssen mitarbeiten, sogar in der Schule Verantwortung übernehmen und die Jüngeren unterrichten. 18 Monate begleiteten Huezo und ihr Kameramann Ernesto Prado den Alltag mehrerer Familien. In Prados Händen wurde die Kamera zum stillen Beobachter, fing die mal erhebende, mal bedrohliche Natur ein, den Kreislauf des Lebens, an dem die Kinder wie selbstverständlich teilhaben. Eine Ziege wird geschlachtet, ein Schäfchen geboren. Es gibt unbeschwerte und erstaunlich intime Momente. 

 

Das abgeschiedene El Eco trägt Züge eines Eilands, und so empfindet der Regisseur Asaf Saban auch sein Heimatland Israel: „Wir leben ein bisschen wie auf einer Insel.“ Es ist eine Art Tradition, dass höhere Schulklassen nach Polen zu den Holocaust-Gedenkstätten reisen. Für viele der erste Auslandsaufenthalt, ein Abenteuer, bei dem es nicht nur um Geschichtserfahrung geht, sondern auch um Begegnungen mit der Fremde und um Freizeitunternehmungen abseits des Tagesprogramms. Liebeleien, Lästereien, abendliche Partys. Saban hat als Jugendlicher selbst eine solche Reise unternommen und seine damaligen Erfahrungen in das Drehbuch zu seinem Spielfilm „Delegation“ (Ha’Mishlahat) einfließen lassen. Überzeugend verknüpft er die intensiven, manchmal überwältigenden Erfahrungen in den Vernichtungslagern mit alterstypischen Befindlichkeiten und Momenten der Reife. Eines fließt ins andere. Große Bedeutung besitzt die Figur des Holocaust-Überlebenden Yosef. Gespielt wird er von Ezra Dagan, der in Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ in einer Nebenrolle als Rabbi Menasha Levartov und in anderen internationalen Produktionen zu sehen war. 

 

Mit „Tiger Stripes“, dem Langfilmdebüt der Regisseurin Amanda Nell Eu, ist Malaysia in der Sektion vertreten. Hier liefert eine dörfliche Gemeinschaft den Rahmen für eine moderne Schauergeschichte. Die unbändige zwölfjährige Zaffan spielt gern im Dschungel, wo sie den ungeliebten Hidschāb (malaiisch Tudung) ablegen kann. Sie fordert heraus, stößt mit ihrem Verhalten manchmal sogar ihre besten Freundinnen Farah und Mariam vor den Kopf. Zaffans Verhältnis zu ihrer Umgebung verändert sich dramatisch, als ihre erste Periode einsetzt. Ihr Körper wandelt sich, sie giert nach Blut, legt alle Fesseln ab. Ein Exorzist soll Zaffan von den inneren Dämonen befreien. Der selbstgefällige Scharlatan möchte die Teufelsaustreibung ins Internet übertragen und hofft auf viele Klicks. Er wird kein gutes Ende nehmen … 

 

Eine fünfköpfige Jugendjury ermittelt unter diesen Beiträgen den diesjährigen Gewinner des Filmpreises für Kinderrechte, thematisch unterstützt vom Kinderhilfswerk terre des hommes e.V., das die Preisvergabe als Pate begleitet. Stifter des mit 2.000 Euro dotierten Preises ist die Stadt Osnabrück.
 

Das 38. Filmfest Osnabrück – Festival des Unabhängigen Films findet statt vom 11. bis 15. Oktober 2023.

 

Die Filme des Wettbewerbs um den Filmpreis für Kinderrechte:

 

Wolf and Dog  
Lobo e cão  
Portugal, Frankreich 2022, 111 Min.
Regie: Cláudia Verjão 

 

Delegation 
Ha’Mishlahat
Polen, Israel, Deutschland 2023, 101 Min.
Regie: Asaf Saban 

 

The Echo 
El eco 
Mexiko, Deutschland 2023, 102 Min.
Regie: Tatiana Huezo 

 

Tiger Stripes
Malaysia, Taiwan, Singapur, Frankreich, Deutschland, Niederlande, Indonesien, Katar 2023, 95 Min.
Regie: Amanda Nell Eu 

 

Hier geht es zum Bildmaterial: https://we.tl/t-1WxfF3n39c