Für ein junges Publikum im Stil der alten Meister
Ein Kino-Welterfolg in Osnabrücker Erstaufführung: Das preisgekrönte Nachkriegsdrama „Bohnenstange“ in der Lagerhalle.
Manchmal kommt die Erinnerung wie eine unerwartete Attacke. Dann erstarrt Iya plötzlich. Sie ist nicht ansprechbar, muss krampfartig schlucken. Ihre Kolleginnen sind es gewohnt. Sie machen ungerührt weiter mit ihrer Arbeit, denn davon gibt es genug im Leningrader Veteranenhospital. Iya (Viktoria Miroschnichenko), mittlerweile Krankenschwester, war Soldatin in der Flugabwehr und hat ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Ihre Aussetzer sind eine Spätfolge der Verletzung.
Mit „Bohnenstange“ legt der russische Regisseur Kantemir Balagow seinen zweiten abendfüllenden Spielfilm vor. Als Thema wählte er ein im populären Kinofilm vernachlässigtes Kapitel, das der 29-Jährige insbesondere einem jungen Publikum nahebringen möchte. Über den Zweiten Weltkrieg seien schon viele Spielfilme gedreht worden, sagt er, aber nur wenige widmeten sich den Frauen, die als Soldatinnen, Krankenschwestern und in anderen Positionen Anteil am Kriegsgeschehen hatten.
Inspiriert wurde Balagow von dem Dokumentarroman „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ der russischen Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. Die literarische Textcollage von 1983 konnte in der Sowjetunion erst mit Anbruch der Liberalisierung im Zuge der Perestroika erscheinen.
Balagow siedelt sein Geschehen im Herbst 1945 in Leningrad an. Die Sowjetunion hat an der Seite der Alliierten über Deutschland gesiegt, brachte aber hohe Opfer. Soldaten und Zivilisten ließen ihr Leben, das Land leidet unter Entbehrungen und Belastungen. Kriegsversehrte können kaum angemessen behandelt werden. Iya, die wegen ihrer ungewöhnlichen Körpergröße „Bohnenstange“ gerufen wird, wohnt in einem Zimmer in einer früheren Großbürgerwohnung. Küche und Bad teilt man sich, die Schneiderin passt tagsüber auf Paschka auf, den man für Iyas Sohn hält. Tatsächlich ist er das Kind ihrer Kameradin Mascha (Vasilisa Perelygina), die bis zum Schluss gegen Deutschland gekämpft hat und ebenfalls schwer verwundet wurde. Als sie endlich nach Leningrad heimkehren kann, ist Paschka gestorben.
Mascha zieht bei Iya ein, beide versuchen, in ein normales Leben zurückzufinden. Aber die Kriegserlebnisse wiegen schwer. Mascha will unbedingt wieder schwanger werden. Ein Kind bedeutet Hoffnung, etwas, an das man sich klammern kann. Iya verfolgt Maschas flüchtige Affären mit Befremden. Für sie ist Mascha mehr als nur Kriegskameradin und Wohngenossin. Sie hat sich leidenschaftlich in die Freundin verliebt.
Mit „Bohnenstange“ haben Kantemir Balagow und sein Ensemble – Hauptdarstellerin Viktoria Miroschnichenko stand erstmals vor der Filmkamera und liefert ein sensationelles Debüt ab – weltweit Beachtung gefunden. Ihr Film lief auf vielen namhaften Festivals, wurde mehrfach preisgekrönt und begeisterte Kritiker in aller Welt. Im Zuge der 92. Oscar-Verleihung wurde „Bohnenstange“ als offizieller russischer Beitrag in die Shortlist gewählt. Bei den Filmfestspielen von Cannes erhielt Balagow die Auszeichnung als „Bester Regisseur“ der Reihe „Un Certain Regard“.
Beeindruckend an „Bohnenstange“ ist die exzellente Darstellerriege neben einer bis ins kleinste Detail verblüffend authentischen Ausstattung und nicht zuletzt einer ausgefeilten Farbdramaturgie, bei deren Entwurf sich Balagow und seine 26-jährige Kamerafrau Ksenija Sereda an alten flämischen Meistern orientierten.
Das 35. Unabhängige FilmFest Osnabrück 2020 / OFF e. V., der ver.di Ortsverein Osnabrück-Umland und das Bildungswerk ver.di Region Osnabrück zeigen „Bohnenstange“ als Osnabrücker Erstaufführung anlässlich des Antikriegstages am 1. September im russischen Original mit deutschen Untertiteln.
Im Beiprogramm läuft der Beitrag „Kantemir Balagov – Layering History and Identity“, eine Filmcollage mit Interviewausschnitten zu „Bohnenstange“, die der niederländische Fachjournalist und Filmemacher Joost Broeren im Auftrag des International Film Festivals Rotterdam produzierte.
Bitte beachten: Die Aufführung findet unter Berücksichtigung der bekannten Corona-Vorbeugemaßnahmen statt. Die Zahl der Plätze reduziert, und es herrscht Maskenpflicht im Foyer bis zur Einnahme des Sitzes. Karten sind ab 17.8. erhältlich via filmfest-osnabrueck.de. An der Abendkasse wird es nur Restkarten geben. Alle Besucherinnen und Besucher sind aufgefordert, ihre Kontaktdaten abzugeben.
Veranstaltungsdaten:
„Bohnenstange“, 139 Min., Russischer Spielfilm von Kantemir Balagow. Osnabrücker Erstaufführung anlässlich des Antikriegstags.
Termin: 1.9.2020
Ort: Lagerhalle, Rolandsmauer 26, 49074 Osnabrück
Beginn: 18.30 Uhr
Einlass: ab 18 Uhr
Eintritt: 7,00 Euro (regulär), 6,00 Euro (ermäßigt)
Onlinetickets ab Montag, den 17. August auf filmfest-osnabrueck.de
Veranstalter: 35. Unabhängiges FilmFest Osnabrück 2020 / OFF e. V., ver.di Ortsverein Osnabrück-Umland und das Bildungswerk ver.di Region Osnabrück
Vorfilm:
„Kantemir Balagov – Layering History and Identity“, 8 Min., von Joost Broeren.
Bildmaterial zum Download: https://www.eksystent.com/bohnenstange-fotos.html