Ins LICHT sehen: Karlheinz Stockhausens Lebenswerk in Amsterdam

Jakob Uhlig ist Musikwissenschaftler, Journalist und leidenschaftlicher Fan der Avantgarde. Bei der Aufführung von Karlheinz Stockhausens LICHT war er live vor Ort. Hier versucht er, dieses überwältigende Erlebnis in Worte zu fassen:
 
Am 26. März 2018 landete in meinem privaten E-Mail-Postfach eine Werbenachricht der Hamburger Elbphilharmonie. Ich neigte mich damals gerade ins letzte Viertel meines Bachelorstudiums in Musikwissenschaft, war neugierig auf Vieles und ganz besonders auf obskure Avantgarde-Musik des 20. Jahrhunderts, die sich in den letzten Semestern bei mir zu einem ungeahnten Interesse entwickelt hatte. „Auf Kampnagel“, so sagt man in Hamburg, wenn man in das spannendste Zentrum für zeitgenössische Kunst geht, hatte ich vorab schon so einige spannende Erlebnisse gehabt. Völlig überwältigt war ich zum Beispiel von einer Aufführung des Ensemble Musikfabriks, das Werke auf Instrumenten des amerikanischen Komponisten Harry Partchs aufführte. Partchs Musik basiert auf einem völlig neu entwickelten Tonsystem, das herkömmliche Instrumente nicht abbilden können. So sah ich mich konfrontiert mit abgefahrenen Konstruktionen, die zum Beispiel aussahen wie kopfüber aufgehängte Weingläser oder riesige Keyboards. Kurzum: Genau der fremde, bekloppte und deswegen so interessante Kram, den ich damals lieben lernte. Insofern hatte mich das PR-Team der Elphi wohl sehr gezielt ausgewählt, als es mir via elektronischer Post vorschlug – mit expliziter Erwähnung meines offenkundigen Interesses für experimentelle Musik – doch auch mal eine Aufführung von Stockhausens DONNERSTAG aus LICHT anzusehen. Die Karten waren verflucht günstig, die Veranstaltung sehr schlecht besucht und ich war neugierig – es war meine erste Begegnung mit der Musik von Stockhausen überhaupt.
 
Ich kann ehrlicherweise nicht behaupten, dass diese halbszenische Aufführung in einer alten Kranhalle mich damals besonders berührt hätte. Viel interessanter wurde es, als ich im Nachgang an das Konzert mittels Wikipedia-Wissen versuchte zu begreifen, was genau ich da gerade eigentlich vor spärlichem Publikum von einem Hochschulorchester hatte dargeboten bekommen. Die mehrstündige und dennoch gekürzte Aufführung jenes Abends in Hamburg war noch nicht einmal ein Siebtel dessen, was Stockhausen insgesamt für seinen Opernzyklus LICHT geschrieben hatte. 26 Jahre hatte er an diesem Gigantenwerk gearbeitet, dessen konzeptioneller Ansatz ebenso unbescheiden vorsieht, nicht weniger als das gesamte menschliche Leben überhaupt darzustellen. Die gesamte Riesenkomposition basiert grundlegend auf einer einzigen, vom Komponisten sogenannten „Superformel“. Stockhausen legte nicht nur die Musik fest, sondern auch die Bewegungen der Darsteller*innen, Farben, Szenerie, sogar Gerüche. Für die Aufführung einer bestimmten Szene werden vier echte Helikopter benötigt. Noch nie hatte es jemand fertiggebracht, den gesamten Zyklus überhaupt aufzuführen. Und dann hat das ganze, fast 30-stündige Gesamtwerk noch nicht einmal eine wirklich zusammenhängende Handlung, sondern basiert vielmehr auf drei kosmischen Geistern, die symbolisch für lebensimmanente Akte wie Gebären, Sterben, Konflikt und Glück werden. Das war alles so dermaßen überzogen, dass ich es einfach großartig finden musste. Ich beschloss ziemlich kurzerhand, meine anstehende Bachelorarbeit diesem Thema zu widmen.
 
Während ich in diese Arbeit im Folgejahr immer tiefer versank und viel zu lange für die Bearbeitung brauchte, wurde ich darauf aufmerksam, dass im Sommer 2019 in Amsterdam die bisher längste zusammenhängende Aufführung von LICHT über die Bühne gehen sollte. Die Vorzeichen waren ebenso monumental wie das Werk selbst. Obwohl es „nur“ darum ging, etwa die Hälfte des gesamten musikalischen Materials aufzuführen, wurde extra für diese Aufführung ein eigener Masterstudiengang gegründet, dessen Studierende jahrelang auf diesen Moment hingearbeitet hatten. Um das Helikopter-Streichquartett, den wohl größenwahnsinnigsten Teil des ganzen Projekts, überhaupt einmal proben zu können, war ein Crowdfunding-Projekt mit einem Spendenziel von 30.000 Euro nötig. Meine Eltern schenkten meinem armen Studenten-Ich die 300 Euro für eine Karte zu dem dreitägigen Spektakel, wofür ich ihnen auf ewig dankbar sein werde.
 

 
Als ich in Amsterdam so schließlich das erste Mal die riesengroße Halle betrete, in der das Konzert stattfinden sollte, bin ich sogleich erschlagen. Der ganze Raum ist ausgestattet mit einer aufwendigen Lichtinstallation. Sie taucht den Saal in kühle blaue Farben, die für den Hauptcharakter Michael stehen. Über den Verlauf der Aufführungen verändert sich das Licht – analog zum Übertitel – immer wieder. Mal erstrahlt das Gashouder in teuflischem Rot, mal in wärmendem Grün. LICHT besteht aus vielen einzelnen Szenen und immer wieder müssen wir komplett den Saal verlassen, weil die Umbauarbeiten für den kommenden Akt erfolgen müssen. Wir sitzen nämlich nicht immer nur mit Blick auf eine Bühne. Mal müssen Gänge geschaffen werden, damit das Ensemble durch Publikum wandern kann und zum Schlussakt sitzen wir sogar kreisförmig, ganz ohne einen zentralen Fokuspunkt, während kleine Engelschöre durch unsere Reihen wandern. In der Szene, in der die Helikopter in die Lüfte steigen, werden vier Instrumentalistinnen nach draußen gefahren, besteigen jeweils eines der Luftgefährte und sind via Fernsehübertragung miteinander verbunden, die auch zu uns in den Saal gestreamt wird. Etwas Abgefahreneres haben wahrscheinlich die allerwenigsten in dem Saal jemals gesehen.
 
Doch je länger ich mich von all dieser Gefühlsüberreizung um mich herum aufsaugen lasse, desto mehr begreife ich, dass der wahre Zauber hier eben nicht in völlig überzogenem Gigantismus liegt, sondern in einer musikalischen Ästhetik, die zusammen mit der Inszenierung selbst unter den zeitgenössischen Kompositions-Kolleg*innen von Stockhausen ihresgleichen sucht. Der Trompeter, der die Hauptrolle einnehmen darf, hat um seinen Körper einen Gürtel mit einer ganzen Reihe von Dämpfern umgeschnallt, die er teilweise Note für Note auswechseln muss, um exakt die Klangfarbe zu erzielen, die sich der Komponist vorgestellt hatte. Plötzlich entfaltet sich inmitten aller riesigen Gesten so eine unglaubliche Zartheit, in der jeder einzelne Ton genaustens austariert ist. Stockhausens Klangfarben sind so außergewöhnlich, seine Melodieführung so extravagant und doch so einnehmend. Am Anfang und am Ende eines jeden Tages werden wir mit „Grüßen“ und „Abschieden“ empfangen und entlassen. Dabei handelt es sich meistens um elektronische Kompositionen, die von sogenannten Klangregisseur*innen über das gigantische Soundsystem durch den gesamten Raum gejagt werden, während sich das Publikum frei bewegen darf. Einzelne Lichtkegel erhellen den dunklen Raum und manche Menschen scheinen eine geradezu transzendente Erfahrung zu haben, während sie den ungewöhnlichen Klängen lauschen und sich wie erleuchtet in die Strahlen der Scheinwerfer stellen. Als der letzte Tag des Wochenendes schließlich mit den sogenannten ENGEL-PROZESSIONEN abschließt – es ist der Teil des Werks, bei dem das Publikum im Kreis sitzt – kann ich meine Kinnlade kaum noch vom Boden aufsammeln, so fremd, einzigartig und begeisternd erscheint mir all diese Kunst um mich herum.
 
Auf dem Weg nach Hause bin ich wie ausgewechselt. Bis heute denke ich immer wieder an einen Gedanken zurück: die Unvorstellbarkeit, dass dieses Kunstwerk ein Mensch geschrieben haben kann. Bis heute erscheint mir diese Erfahrung von LICHT so außerweltlich, und das, obwohl ich durch meine intensive akademische Auseinandersetzung mit dieser Komposition glaube, vieles davon durchschaut zu haben, inklusive des merkwürdig-esoterischen Geschwurbels, mit dem Stockhausen seine Kunst oft umschrieben hatte. Aber es scheint Dinge zu geben, die sich trotz allem rationalen Verständnis jeglicher Vorstellungskraft entziehen. LICHT hat mein gesamtes Kunstverständnis so an einem Wochenende für immer verändert. Und umso mehr weiß ich, warum Musik bis heute den mit Abstand dominantesten Part in meinem Leben spielt.