Wiener Schmäh, teuflischer Gospel und U2 in Sarajevo
Die Sektion „Laut“ beim 38. Filmfest Osnabrück
2018 konnte das Publikum des Filmfests Osnabrück den musikalischen Tausendsassa Chilly Gonzales in Philipp Jedickes Dokumentarfilm „Shut Up and Play the Piano” auf der Leinwand erleben. Inzwischen ist Jedicke dem Ruf Wiens gefolgt und porträtiert in seinem Film „Vienna Calling“ die dortige Musikszene. Für originalen Wiener Schmäh steht Voodoo Jürgens, der mit Songtiteln wie „Heite grob ma Tote aus“ in die Hitparaden gelangte.
Goldener Anzug, Mofa, Synthiepop – der Künstlername Gutlauninger spricht ebenso für sich wie der der Schriftstellerin Stefanie Sargnagel. Die Geschwister Esra Özmen und Enes Özmen bilden das Rap-Duo EsRap, kreuzen Hip-Hop mit Arabeske und versehen ihre Musik mit zeitkritischen Themen. Kerosin95 ist der Künstlername der nicht-binären Kem Kolleritsch. Kolleritsch spielt Schlagzeug, rappt und singt, gehörte seit 2014 mehreren Bands an und schrieb Musik für Theaterproduktionen. „Ihr kriegt mich nicht“ lautet eine Refrainzeile in der Kerosin95-Veröffentlichung „Trans Agenda Dynastie“ von 2022. Die Zuschauerschaft des 38. Filmfests Osnabrück aber kriegt Kerosin95 zu sehen: „Vienna Calling“ läuft im Festivalprogramm in der Kategorie „Laut“.
Von Wien nach Basel. Hier arbeitet der Musiker Manuel Gagneux. Ihm gelang, was selten geworden ist: Er erfand eine neue Musikrichtung. Die Entwicklung geht zurück auf eine rassistische Provokation auf einem Imageboard. Gagneux tat einen klugen Schritt: Statt ihn zu parieren, vereinnahmte er den gehässigen Vorschlag und kreuzte harten Black Metal mit traditionellen Spirituals und afroamerikanischen Worksongs. Das Projekt bekam den Namen Zeal & Ardor. Anfangs eine Soloproduktion, überraschend ein Erfolg. Selbst Slash von Guns N’ Roses war begeistert. Daraufhin musste eine Band für Bühnenauftritte zusammengestellt werden musste.
Olivier Joliat, selbst Schlagzeuger, hat Gagneux’ Weg von einem frühen Stadium an verfolgt und gemeinsam mit dem Fotografen Matthias Willi in dem Film „Play with the Devil – Becoming Zeal & Ardor“ dokumentiert. Sie wurden Zeugen eines raketenhaften Aufstiegs, einer umjubelten Tournee, aber auch von ersten Selbstzweifeln, persönlichen Krisen. Keine rückblickende Dokumentation also, sondern ein lebendiges, wendungsreiches Zeitzeugnis.
US-amerikanische Country & Western-Musik ist alles andere als ein Erfolgsrezept, wenn man im afrikanischen Eswatini, dem früheren Swasiland, lebt. Aber die Cousins Gazi und Lindokuhle begeistern sich für diese Klänge, den „Blues des weißen Mannes“, wie es so schön heißt, finden sich in den Texten wieder. Sie adaptieren die Spielart und treten als Dusty & Stones vor ihr nicht sehr großes Publikum. Youtube-Aufnahmen von ihnen machen die Runde und werden auch in den USA gesehen. Im Jahr 2017 erhält das Duo unverhofft eine Einladung, am Texas Sounds International Country Music Contest teilzunehmen. Die Freude ist groß, die Reise ein Abenteuer, mit erhebenden und enttäuschenden Erlebnissen.
Der Schauspieler, Musiker, Produzent und Filmemacher Jesse Rudoy plante einen Film über Country-Musiker und -Musikerinnen außerhalb der USA und stieß beinahe zwangsläufig im Web auf das ungewöhnliche Duo aus dem südlichen Afrika. Rudoys Vorhaben wandelte sich ein wenig, denn Gazi und Lindokuhle nutzen das Country-Genre, um Geschichten aus ihrem Leben zu erzählen. Die beiden wurden die Protagonisten in Rudoys erstem abendfüllenden Film, und natürlich gaben sie ihm auch den Titel: „Dusty & Stones“.
Mit Ben Affleck und Matt Damon fanden Regisseur Nenad Cicin-Sain und sein Koautor Bill S. Carter prominente Produzenten für ihren dokumentarischen Musikfilm „Kiss the Future“. Der Filmtitel geht zurück auf einen Ruf des U2-Sängers Bono: „Fuck the past, kiss the future!” The Past, das waren die Kriegsjahre zwischen 1992 und 1995 in Bosnien und Herzegowina mit geschätzten 100.000 Toten, darunter auch Opfer sogenannter ethnischer „Säuberungen“. Sarajevo, heute Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina, war heftig umkämpft. Die Frontlinie zog sich durch die Stadt. Der US-amerikanische Journalist Bill S. Carter lebte in Sarajevo in einem verlassenen Bürogebäude und bemühte sich, die Welt auf die Gräuel aufmerksam zu machen. Er erhielt die Unterstützung der irischen Band U2, die während ihrer Zoo-TV-Welttour über Satellit von den Bühnen live in die besetzte Stadt schalteten.
Nach Kriegsende dann trat die Band in Sarajevo auf, begleitet von lokalen Bands und einem Chor muslimischer Sängerinnen. Nenad Cicin-Sain und sein Koautor Bill S. Carter haben nicht nur das Engagement U2s dokumentiert, sondern auch das musikalische Kulturleben in Sarajevos Kellern und Bunkern, während oben Schüsse peitschten, Granaten explodierten.
U2 und Brian Eno schrieben 1995 den Song „Miss Sarajevo“ und spielten ihn gemeinsam mit Luciano Pavarotti ein. Das Video zum Song enthält Reportagebilder von Bill S. Carter und Amateurfilmern, Aufnahmen vom zerschossenen und brennenden Sarajevo, auch von einigen wenigen unbeschwerten Momenten, die dem Krieg abgerungen wurden. Die besungene Misswahl gab es tatsächlich, von Frauen organisiert. Die Kandidatinnen trugen gemeinsam ein Spruchband: „Don’t let them kill us“.
Das 38. Filmfest Osnabrück findet statt vom 11. bis 15. Oktober 2023 in den Aufführungsorten Filmtheater Hasetor, Haus der Jugend, Lagerhalle. Programm, Informationen, Tickets unter www.filmfest-osnabrueck.de.
Zur Akkreditierung: https://filmfest-osnabrueck.de/akkreditierung/